Wie jedes Jahr war es Pfingsten wieder so weit für das größte Spektakel im deutschen Jugendschach – die Deutschen Jugendeinzelmeisterschaften im Sauerland Stern Hotel in Wilingen. Abgesehen von Problemen bei der Unterbringung – zu viele Anreisende wegen dem neuen U8 Turnier – hatte auch die seit Jahren auf einer Abwärtsspirale befindliche Verpflegungsqualität einen neuen Tiefpunkt erreicht. Wo bist Du, roher Schinken zum Frühstück – wo seid Ihr, Salate zum Abendessen – Oliven Adé. Où sont les neiges d’antan? Angesichts der Preise könnte man wahrscheinlich einen Hektar Hotel an der türkischen Riviera mieten, inklusive Flug, und dann im Stupor gastronomischer Glückseligkeit heimkehren. Aber eigentlich sind wir ja zum Schachspielen hier.
Als „Stadionsprecher“ trafen wir Alwins Dauerpartner und -gegner der vielen Jahre, seitdem sie der Schachkiste entschlüpft sind, Jonas Gallasch wieder. Beide nun zu alt für die Jugendmeisterschaften. Die Zeit vergeht. Er war Live-Kommentator des Turniers und machte seinen Job kundig und unterhaltsam. Wirklich eine gute Wahl, denkt man an die oft drögen Kommentare mancher GMs bei Turnieren zurück. Wirklich ALLE Spiele wurden diesmal zum ersten Mal digital übertragen – man konnte also fast sofort auf z.B. Lichess direkt zuschauen und mitleiden. Doch Tücken hat die Technik (dazu später mehr). Das heißt auch, dass man auf Lichess auch besonders dramatische Szenen nochmal im Detail inspizieren konnte, weil dort auch die Zeiten sichtbar sind. Wer wann wie lange überlegte war in den oft knappen Partien interessant und entscheidend.
Die jüngeren Spieler kenne ich kaum noch, aber in der U16 kam es zu einem Treffen der alten Bekannten. Ex NRW-Mustang-Meister Nelson Strese, der sich später aus dem Schach zurückgezogen hatte, war plötzlich wieder aufgetaucht. Wie damals entwickelte sich ein nervenaufreibendes Finish, in dem Nelson die Favoriten auf die Plätze verwies und sich erneut die NRW Meisterschaft erkämpfte – ein Phoenix aus der Asche. Wie üblich wurden die Favoriten dann natürlich über Freiplätze weitergelotst, so dass sie jetzt zusammen mit Nelson NRW vertreten. Ehrlich gesagt, verstehe ich die Kaderpolitik des Schachbundes hier nicht: die Favoriten sollten z.B. auf Grenke spielen, wo sie gegen internationale Titelträger Motivation und Punkte tanken können, anstatt in einem Provinzturnier, wo sie ohnehin oben gesetzt sind, dann auch noch Punkte und Qualifikation zu verlieren (oft). Da ELO ja ohnehin das Maß aller Dinge ist, sollte man vielleicht die Teilnahme an Turnieren fördern, wo die Spielenden ihre ELO Zahl entwickeln können. Wenn sich die Freiplätze sowieso nach ELO richten, warum Zeit, Punkte und Motivation in der Qualifikation verschwenden? Ich jedenfalls kann es mir nicht als sehr motivierend vorsstellen, als Favorit wieder die NRW-Qualifikation an Schwächere zu verlieren und dann über einen Almosenfreiplatz weiter zu kommen. Würden die Freiplätze vor der NRW-EM vergeben, könnten sich die Top-Spieler auf qualitativ höhere Turniere konzentrieren. Egal – Ingi spielt in der ODJM-A Gruppe und ist unberührt von den Ränken des Schachbunds.
Sicherer Start
Am ersten Tag ging es langsam los – 2 Remis für Ingi. „Für“, weil er auf Setzplatz 58/70 erstmal (hoffentlich) auf stärkere Spieler treffen würde. Die Remis waren gerechtfertigt – in beiden Fällen zweischneidige Stellungen mit hohem Risisko für Ingi und wenig klaren Vorteilen. Da soll dann der Bessere seinen Hut in den Ring werfen und auf Sieg spielen – Ingi nahm die Remis-Gebote an. Platz 41/70 nach 2 Spielen.
Blackout
Etwas Erholung am Pfingstmontag: die „Großen“ mussten erst nachmittags spielen; der Vormittag gehörte der hysterisch wuselnden Schar des KIKA-Turniers. Das qualifikationslose Kinderturnier mit seinem aussgiebigen Freizeitprogramm lockte und frohlockte wieder eine große Anzahl Schachflöhe. Auch Ingmar und NRW Top-Spieler Philipp Klaska hatten hier damals angefangen.
Ein rabenschwarzer Tag für Ingmar: er hatte einen Blackout und übersah eine einfache Taktik, auf die er schon mit 10 nicht mehr hereingefallen wäre. Dass er gegen einen 2000er verliert – geschenkt – aber durch so eine Heft-2 Taktik einzustellen, das ärgert schon. Leider gibt es hier keinen Baldriantee. Als kleine Taktikaufgabe für das Kindertraining: Warum hätte Ingmar den Zug, den der Pfeil anzeigt, besser nicht gemacht?
Dea ex Machina
Auf der Online-Übertragung eine kleine Sensation: Ingmar überrollte seinen Gegner in einem überragenden Flügelsturm am Damenflügel, so dass der Gegner schnell, völlig eingezwängt, aufgab. Doch er kam und kam nicht zurück auf sein Zimmer. Und als er dann endlich kam, meldete er das Spiel als verloren. Was war geschehen? Die Technik hatte seine und die Nachbarpartie vertauscht und ihm das großartige Spiel von Massimo Longo in die Schuhe geschoben. Wer die wunderschöne Partie sehen, möchte findet sie hier: Masssimo .
1. e4 e6 2. d4 d5 3. Sc3 Sf6 4. e5 Sfd7 5. Sce2 c5 6. c3 Sc6 7. f4 b5 8. a3 a5 9. Sf3 Db6 10. g3 La6 11. Le3 b4 12. Tb1 Tb8 13. Tc1 bxa3 14. bxa3 Db2 15. Da4 Lb5 16. Dc2 Dxa3 17. Kf2 La4 18. Dd2 Tb2 19. De1 Lb5 20. Tb1 cxd4 21. Sfxd4 Sxd4 22. cxd4 Lb4 23. Dc1 Txb1 24. Dxb1 Ld3 25. Dd1 Le4 26. Tg1 O-O 0-1
Hätte Ingi die Partie gespielt, hätte ich mir den Ausdruck übers Bett gehängt – ein Angriff, geküsst von Caissa. Doch die Göttin kam leider nur aus der Maschine.
Doppelrunde und Zwischenstand NRW
Langsam geht es an die Ausdauer: wieder 2 Spiele an einem Tag. Das erste zum Glück noch immer gegen einen höher gesetzten Spieler mit 1937. Ausgeglichenes Spiel mit viel Manöverei – am Ende schafft es der Gegner seinen Turm besser zu plazieren und Ingmar muss sich trotz eines Mehrbauern mit einem Remis zufrieden geben.
Mit Erdbeeren und Nektarinen gewappnet geht es in die nächste Runde. Ingmar ist wieder über seinen Setzplatz nach oben gewandert und trifft auf DWZ 1928. Alles sehr eng zusammen über weite Punktebereiche. Ingi schafft nach über 4,5 Stunden wieder ein Remis. Furchtbar kompliziertes Endspiel: beide mit 2 Türmen und 4 Bauern.
Wie sieht es für die NRW Mitspieler aus (Nostalgisch schaue ich nur auf die, mit denen wir in der guten, alten Zeit durch die NRW Jugend Grand Prix -Turniere und die Meisterschaften getingelt sind)? Nach Runde 6 kann man ja schon mal Richtung Turnierende blicken.
Unsere Freunde Rafael und Robin aus Porz, die in der 5. Runde noch auf Platz 8 und 9 standen in der ODJM-A standen, blieben kein Tandem: Rafael behauptete sich auf Platz 9, Robin fiel leider ab. Mit reiner Weste führt Victor Kruse in der ODJM-A mit 5/5 – verlor dann aber und fiel auf Platz 4 zurück.
Gemischte Gefühle bei der goldenen Generation von NRW, der U16: Bisher ungeschlagen bleibt Philipp Klaska auf Platz 3, mit einem Punkt Rückstand auf Platz 1, der 5/6 Punkte erzielt hatte. Ein Fels in der Brandung! Der stark gestartete Maurin Möller hat 3mal verloren und ist abgeschlagen auf Platz 21 zurückgefallen. Nelson, nach einem schlechten Start, hat sich zurückgekämpft auf Platz 7 – 1,5 Punkte hinter der Spitze – man darf noch hoffen. Das an 1 in der U14 gesetzte Wunderkind FM Hussain Besou fällt auf Platz 5 zurück. Er spielt die U14 schon das dritte Jahr mit – als Jahrgang 2011 dürfte er sie aber nächstes Jahr verlassen müssen – Alterklassen? Firlefanz.
Die Sonne von NRW scheint mit einem weiblichen Gesicht. In den W-Klassen von U18-U12 haben überall NRW-Spielerinnen die höchste Punktzahl – manchmal wegen der Feinwertung nicht Erste, aber immer punktgleich. Da steigt die Nervenanspannung, da jetzt von jedem Spiel das Siegertreppchen sichtbar wird (oder auch nicht).
In der U18w liefern sich Yaroslawa Sereda und Lepu Coco Zhou aus Berlin ein spannendes Kopf an Kopf rennen – von der 6. zur 7. Runde schiebt nur die Feinwertung Yaroslawa auf Platz 1 – punktgleich sind sie noch immer. Auch Michelle Trunz, nach der 6. Runde nur punktgleich, rückt in der 7. auf den ersten vor – mit einem halben Punkt Vorsprung.
In der U14 behauptet Tamila Trunz ihren ersten Platz – bisher ungeschlagen mit 2 Remis geht auch sie führend in die Zielgerade. Auch nach der siebten Runde bleibt sie vorne – aber es bleibt sehr spannend: je 2 mit 5.5, 5, und 4.5 Punkten – viel Raum für Jubel und Enttäuschung.
Schachpsychologie: Blitzen ist eine ansteckende Krankheit
In seiner siebten Partie kam Ingmar als Weißer gut aus der Eröffnung, verbrauchte aber sehr viel Zeit. Er verspielte aber sein +1 Rating durch etwas unmotivierte Läuferrückzüge. Bei Zug 11 hatte er schon 45 Minuten weniger auf der Uhr. Mit Mühe wehrte Ingi einen Angriff auf dem Königsflügel ab und zwang seinen Gegner Angreifer zur Verteidigung zurückzuziehen. Auf seiner Uhr waren weniger als 2 Minuten – bei seinem Gegner fast eine halbe Stunde. Und Ingis verzweifeltes Blitzen bei einem -5 Rating steckte seinen Gegner an – was wir den Kleinen ja schon beim Kindertraining beibringen – „Wenn dein Gegner blitzt, bleibe ruhig, überlege, ziehe langsam“ – beherzigte er nicht. Wahrscheinlich genervt, weil Ingi so lange überlegt hatte, ließ er sich vom Blitzen anstecken, und wie es so geht – verblitzte er prompt seine Dame. Hier als kleine Taktikaufgabe fürs Training – warum verliert hier Schwarz seine Dame, nach dem gepfeilten ZUG:
Und wer fleißig seine Stappenhefte geübt hat, der schafft auch im Blitzmodus noch gute Taktiklösungen. Noch eine Aufgabe: Wie gewinnt Weiß am Zug den Läufer?
https://lichess.org/broadcast/odjm-a/odjm-a-runde-7/nqzLBHcl/9x9c11ai
Für Ingi ein wenig ausgleichende Gerechtigkeit: so wie er in einer vorigen Partie einzügig eine Figur eingestellt hatte, so profitierte er hier vom Nervenkostüm seines Gegners. Der hätte einfach alle paar Züge einen Spaziergang machen können, ein Wasser holen und trinken (im Turniersaal gibt es freies Wasser), und dann wäre ihm der Sieg eigentlich nicht mehr zu nehmen gewesen.
Nervenkrieg an den Spitzen
Ingmar hatte durch seinen kuriosen Sieg in der 7. Runde einen Sprung auf Platz 38 gemacht – 20 über seinem Setzplatz. Sein nächster Gegner hatte fast 100 DWZ mehr. Die Eröffnung entwickelte sich gefahrlos ins Mittelspiel, zu einer komplizierten Stellung mit leichtem Vorteil für Ingi. Beide sahen sich mit unangenehmen und riskanten Varianten konfrontiert und einigten sich auf ein versöhnliches Remis. Für Ingi ein Gewinn – sein Gegner war schon abgerutscht und wollte keinen noch größeren Verlust riskieren. Immer noch 16 über seinem Setzplatz kann Ingmar zufrieden sein.
Sowohl Coco als auch Yaroslawa zeigten in ihrem Fernduell in der U18w Nerven: Yaroslawa ließ sich durch ein mehrzügiges Manöver einen Läufer einsperren, den sie aber mit starker Taktik für einen Bauern wieder befreite. Großes Kino, das auch die Kommentatoren überraschte. Coco verließ ein verkrautetes Mittelspiel mit einem Bauern weniger, gewann dann aber ebenfalls mir starker Taktik einen Springer. Beide gewinnen und rasen Kopf-an-Kopf der Meisterschaft entgegen.
Philipp war diesmal nicht nur der Fels, sondern die Brandung – in einem starken Spiel ein souveräner Sieg. Damit spielt er sicher um ein Treppchen morgen. Nelson setzte seine grandiose Aufholjagd fort. Platz 1 hat einen Punkt Vorsprung und wird sich die Meisterschaft wahrscheinlich nicht mehr nehmen lassen, aber mit Philipp und Nelsona auf Platz 3 und 4, sollte morgen 1 NRWler aufs Treppchen kommen – sie sind punktgleich und haben einen halben Punkt Vorsprung auf Platz 5.
Trotz langer Remis-Lage gewinnt Michelle in der U16w und führt mit einem Punkt Abstand – als einzige in der Gruppe hat sie kein Spiel verloren. Das muss doch mit einer Deutschen Meisterschaft belohnt werden. Für Tamila in der U14w ist die Sache noch nicht ganz so klar: die 2. ist punktgleich mit ihr, und mit nur einem halben Punkt Abstand lauern 2 weitere. Da wird es morgen sehr spannend.
In der U14 darf Houssain noch von einem Sieg träumen – auf Platz 3 mit einem halben Punkt Rückstand auf 1 ist noch alles drin.
Vorab schon mal ein Jubel in der U12w. Bereits nach der 8. Runde steht die neue Deutsche Meisterin fest: Mariia Bohatyrova aus Erkenschwick, gesetzt an 10, liegt uneinholbar mit 1,5 Punkten vorne. 7 Siege und ein Remis – das ist dominant. Dabei macht sie ihrem Namen alle Ehre: ‚Das Wort Bogatyr stammt aus dem Altaischen … Die ursprüngliche Bedeutung des Wortes war „Held“ oder „tapferer Krieger“.‘ (https://de.wikipedia.org/wiki/Bogatyr)
In der ODJM-A liegen 2 NRWler vorne – vielleicht schafft Victor Kruse ja noch die Rückkehr auf Platz 1 und macht seinem Namen alle Ehre, aber der konstant starke Paul-Luca Wübker aus Brakel – gesetzt an 1 – dürfte die Setzliste bestätigen. Und verdient: als einziger Spieler über Platz 65 hat er KEIN einziges Remis. So sehen Kämpfer aus. Rafael und Robin sind wieder nebeneinander plaziert – leider nicht dort, wo wir sie gern gesehen hätten, sondern auf 18 und 19.
Finale
Der Endspurt ist schnell erzählt. Coco gewinnt ohne große Probleme – Slawa gerät positionell und materiell in Rückstand, kämpft sich aber, wie eine Löwin, zurück – ihre Gegnerin verspielt ihren Zeitvorsprung und in der chaotischen Inkrementphase, wo beide ??-Züge anhäufen, ist Slawa taktisch sicherer. Aber auch der Sieg läßt Cocos Buchholzvorsprung nicht schrumpfen – bleibt ein hochverdienter 2.ter Platz. In der U16 macht Philipp relativ früh Remis – nach eigenen Aussagen ohne Ünterstützung einer Buchholz-KI – obwohl Nelson gewinnt, landet er einen halben Buchholz-Punkt knapp hinter Philipp auf Platz 4 – aber jedenfalls: ein Top-Comeback unter den besten Schachspielern Deutschlands! Mit Philipp und Nelson in der Spitze muss sich NRW nicht verstecken.
Läuft bei Trunzens: Michelle reicht ein entspanntes Remis, um mit einem Punkt Abstand Meisterin zu werden. Bei Tamila ging es noch um was – mit ihrem Sieg brachte sie den halben Punkt Vorsprung auf die Zweite aber ins Ziel. Gute Ausbeute: Zwei Schwestern – zwei Meisterinnen. In seiner dritten U14 Teilnahme auch ein Happy End für Hussain: Auf Platz 3 zurückgefallen konnte er nur noch auf den Titel hoffen, doch der Erste, Mykola aus Essen, spielt die letzten Spiele Remis, Hussain gewinnt sie. Ein Buchholzpunkt macht ihn zum Meister. Wer gewinnt, gewinnt.
Und weit unter dem Olymp, im Duell der Sterblichen? Nach seinem Ärger über den Patzer schafft Ingi noch einige Remis und 2 glückliche Siege. Damit ist er oberhalb der 1900 angekommen – der Run auf die 2000 kann beginnen. Doch wie man schon in den Jugendlichen-Partien sieht: die Zahl der Remis wird immer höher. Es wird immer schwerer, auf der Punkteleiter emporzuklettern.
Die ganzen PGNs, wie üblich auf der Turnier Seite: Turnier
Spannend zum Nachvollziehen auf LiChess: Spielprotokolle auch mit Engine Hilfe